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Landgericht Aschaffenburg

Justiz ist für die Menschen da – Recht Sicherheit Vertrauen

Pressemitteilung 04 vom 23.04.2020

Strafverfahren gegen Norbert B. wegen Mordes

Angeklagter freigesprochen – Täterschaft nicht ansatzweise bewiesen – Deutliche Kritik an Erstgutachten – Anerkennende Worte in Richtung Nebenkläger – Beweisanträge der Staatsanwaltschaft abgelehnt

Die 2. Große Jugendkammer hat heute nach 16 Verhandlungstagen den 57-jährigen Angeklagten, dem zur Last lag, vor gut 40 Jahren die damals 15-jährige Christiane J. im Schlosspark in Aschaffenburg ermordet zu haben, freigesprochen.

„Der Angeklagte war freizusprechen, weil nach der durchgeführten äußerst umfangreichen Beweisaufnahme auch nicht ansatzweise bewiesen ist, dass der Angeklagte am 18.12.1979 Christiane J. ermordet hat“, begann der Vorsitzende der Kammer, Dr. Karsten Krebs, seine mündliche Urteilsbegründung.

Die Kammer gehe, so Dr. Krebs, sogar noch einen Schritt weiter: Denn auch wenn die Kammer die Unschuld des Angeklagten am Ende nicht mit letzter Sicherheit feststellen könne, sei es nach Überzeugung der Kammer „sehr unwahrscheinlich“, dass der Angeklagte der Täter des schrecklichen Mordes gewesen sei.

Im Rahmen der ausführlichen Darstellung des aufgrund der Beweisaufnahme rekonstruierten Tatgeschehens erläuterte der Vorsitzende unter anderem, dass für die Kammer feststehe, dass Christiane ein – zumindest aus ihrer Sicht – sehr guter Grund gegeben worden sein müsse, dass sie sich am Abend nach dem Steno-Kurs überhaupt in den Schlossgarten begeben habe. Wahrscheinlich sei, dass Christiane ihren Mörder kannte.

Zudem stehe für die Kammer fest, dass derjenige, der den Biss in die Brust des Opfers verursacht habe, auch der Mörder gewesen sei.

Dass aber die Bissspur durch den Angeklagten gesetzt worden sei, dafür gebe es nach der durchgeführten Beweisaufnahme überhaupt keinen Nachweis. Die Einschätzung der Erstgutachterin Dr. Gabriele Lindemaier, die die Bissspur noch „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ dem Gebiss des Angeklagten zugeordnet habe, sei nach inzwischen vorliegendem Kenntnisstand grob falsch gewesen. Nachdem der Kammer zentrale zahnärztliche Unterlagen erst Anfang Februar 2020 zur Verfügung gestellt worden seien, habe die Kammer zunächst das nachholen müssen, was von einer Sachverständigen selbstverständlich zu erwarten gewesen wäre. Diese von der Kammer angestellten Überlegungen seien zuletzt auch durch den Sachverständigen Dr. Dr. Claus Grundmann überzeugend und nachvollziehbar dahingehend bestätigt worden, dass nicht eine der Besonderheiten in der Bissspur hätte festgestellt werden können, die die Erstgutachterin noch in die Bissspur hineininterpretiert habe.

Nach Überzeugung der Kammer verbleibe nur noch eine „denktheoretische Möglichkeit“, dass der Angeklagte Urheber der Bissspur gewesen sei. Es sprächen nach der Begutachtung durch den Sachverständigen Grundmann sogar einige Umstände deutlich gegen den Angeklagten als Verursacher der Bissspur, etwa das in der Bissspur sichtbare Diastema (leichte Zahnlücke zwischen den Schneidezähen) oder die Nichtabbildung eines damals beim Angeklagten vorhandenen Zahnes in der Bissspur.

Dass die Kammer den zuletzt gestellten Beweisermittlungsanträgen der Staatsanwaltschaft nicht nachgegangen sei, sei einzig darin begründet, dass sich hieraus in keiner Weise ein Erkenntnisgewinn für die Aufklärung des Falles erwarten ließ. Die Kammer habe - einschließlich der Vornahme ureigenst sachverständiger Aufklärungsarbeit - nichts unversucht gelassen, um die Wahrheit aufzuklären. Für eine Verurteilung dürften keine vernünftigen Zweifel an der Schuld des Angeklagten verbleiben – von diesem Maßstab sei man meilenweit entfernt.

Ohne ein ausreichend eindeutiges zahnmedizinisches Gutachten zulasten des Angeklagten sei nach Überzeugung der Kammer ein die Verurteilung tragender Tatverdacht ohnehin undenkbar gewesen, zumal des Weiteren nicht ausgeschlossen werden könne, dass dem Angeklagten ein Alibi zur Seite gestanden habe. Dies folge vor allem aus der Rekonstruktion des Tatgeschehens auch in zeitlicher Hinsicht. Denn auch wenn sich die mittels eines Aktenvermerks eines früheren Polizeibeamten beschriebene Sichtung des Angeklagten etwas später als vermerkt zugetragen hätte, so könne dies nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht allzu viel später gewesen sein, mit der Folge, dass ein Alibi des Angeklagten nicht auszuschließen sei.

Auch Beweismittel, die ursprünglich in Betracht gekommen seien, um den Tatverdacht gegen den Angeklagten zu stützen, könnten – zumindest für sich betrachtet – keine Verurteilung des Angeklagten tragen:

So habe die Aussage des Mitgefangenen, demgegenüber der Angeklagte in der Untersuchungshaft die Tat vermeintlich gestanden haben soll, keinen besonderen Beweiswert, da es die Kammer in Bezug auf den Wahrheitsgehalt der Angaben des Zeugen für mindestens genauso wahrscheinlich halte, dass sich dieser durch eine Falschaussage strafbar gemacht habe. Der Zeuge neige nachweislich dazu, sich durch Lügen in den Mittelpunkt zu stellen. Zudem seien die Angaben dieses Zeugen nicht nur durch den Angeklagten bestritten worden, sondern ferner habe der Angeklagte nach der Aussage seines unmittelbaren Zellengenossen, mit dem er enger vertraut gewesen sei, diesem gegenüber nie die Tat zugestanden.

Auch sei keinesfalls sicher, dass der Angeklagte kurz nach der Tat Täterwissen offenbart habe, indem er einen Zeugen zum Tatort geführt habe. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme hätten nämlich weitere Jugendliche bereits am Tag nach der Tat den Tatort aufgesucht, so dass es sich nicht um spezielles Täterwissen gehandelt haben dürfte.

Zuletzt sei auch ein möglicherweise vergleichbarer Übergriff des Angeklagten auf ein anderes Mädchen einige Wochen vor der angeklagten Tat für sich allein genommen kein belastbares Indiz. Zudem sei dieser Umstand für die Kammer kraft gesetzlicher Anordnung ohnehin nicht verwertbar gewesen. Wenn nämlich – wie hier – nicht ausschließbar sei, dass der damalige Vorgang aus anderen Gründen als wegen des fehlenden Tatverdachts eingestellt worden sei, dürfe auch der zugrundeliegende Sachverhalt heute nicht mehr zulasten des Angeklagten verwendet werden.

Es sei daher für die Kammer bei der Feststellung verblieben, dass ein Tatnachweis gegen den Angeklagten unter keinen Umständen geführt werden könne.

Die Kammer sprach zudem aus, dass der freigesprochene Angeklagte für die erlittenen Strafverfolgungsmaßnahmen wie den Vollzug der Untersuchungshaft zu entschädigen sei.

Zum Abschluss der Urteilsbegründung wandte sich der Vorsitzende nochmals an die Beteiligten direkt:

Dem Angeklagten versicherte er, dass die Kammer den Haftbefehl früher aufgehoben hätte, wenn die Fehlerhaftigkeit des Erstgutachtens für sie früher erkennbar gewesen wäre.

An die Nebenkläger gewandt äußerte der Vorsitzende großes Verständnis für die Enttäuschung, dass sich die Hoffnung, das Verbrechen zum Nachteil ihrer Schwester doch noch zu klären, nicht erfüllt habe. Es verdiene große Anerkennung, dass die Nebenkläger – trotz der Emotionen und Belastungen durch das Verfahren – sachlich und objektiv geblieben seien.

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

Zuvor hatten bereits Staatsanwaltschaft und Verteidigung – allerdings mit unterschiedlicher Deutlichkeit und Schwerpunktsetzung – Freispruch beantragt. Die Nebenklage stellte keinen eigenen Antrag.


Rückfragen zur Presseerklärung richten Sie bitte an die Pressestelle des Landgerichts Aschaffenburg (pressestelle@lg-ab.bayern.de).

gez.
Dr. Krist
Richter am Landgericht
Pressesprecher