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Staatsanwaltschaft München I

Justiz ist für die Menschen da – Recht Sicherheit Vertrauen

Pressemitteilung 03 vom 21.03.23

Abschluss der Ermittlungen gegen kirchliche Verantwortungsträger auf der Grundlage des Gutachtens der Erzdiözese München und Freising

Anfang August 2021 wurden der Staatsanwaltschaft München I durch die Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl vorab 41 Vorgänge (und ein weiterer Vorgang im November 2021) zur Verfügung gestellt, in denen ausgehend vom Prüfungsmaßstab des Gutachtens der Kanzlei vom 20.01.2022 ein Fehlverhalten kirchlicher Verantwortungsträger gegeben sein könnte. Die Staatsanwaltschaft forderte überdies Ende Januar 2022 Unterlagen zu drei weiteren Fällen an. Das Gutachten der Kanzlei vom 20.01.2022 bezog sich auf einen Zeitraum von 1949 bis 2019 und auf Kleriker sowie hauptamtliche Bedienstete der Erzdiözese.

Soweit sich aus diesen Vorgängen Verdachtsmomente hinsichtlich eines möglicherweise strafrechtlich relevanten Verhaltens kirchlicher Verantwortungsträger ergaben, wurden zunächst gesonderte Vorprüfungsvorgänge eingetragen. Geprüft wurde dabei insbesondere, ob ein kirchlicher Verantwortungsträger durch eine Personalentscheidung Beihilfe zu einer später begangenen, noch nicht verjährten Missbrauchstat eines Priesters geleistet haben könnte. In sechs Fällen war das Vorliegen einer solchen noch nicht verjährten Haupttat zunächst nicht auszuschließen. Dies betraf Taten der bereits verstorbenen Priester Rudolf G. (Fall 26 aus dem WSW-Gutachten), Lolke N. (Fall 38), Walter S. (Fall 40), Alfons L. (Fall 45), Heinrich M. (Fall 50) sowie des aus der Berichterstattung bereits bekannten Priesters Peter H. (Fall 41). Daher wurden drei (damals) noch lebende kirchliche Personalverantwortliche von der Staatsanwaltschaft München I als Beschuldigte eingetragen: Joseph Ratzinger (emeritierter Papst Benedikt XVI.), Friedrich Wetter (emeritierter Erzbischof von München und Freising) und Gerhard Gruber (ehemaliger Generalvikar).
 
In den umfangreichen Ermittlungen wurden eine große Menge von Unterlagen der Erzdiözese (u.a. Personalakten und Handakten, Protokolle der Ordinariatssitzungen) gesichtet und ausgewertet sowie knapp 30 Zeugen ermittelt und, soweit sie aussagebereit waren, vernommen. Beim Polizeipräsidium München war die eigens für die Bearbeitung kirchlicher Missbrauchsfälle eingerichtete „EG Kelch“ zuständig.

Die Ermittlungen ergaben jeweils keinen hinreichenden Verdacht strafbaren Handelns der Personalverantwortlichen, weswegen die Ermittlungsverfahren sukzessive gem. § 170 Abs. 2 StPO eingestellt wurden, zuletzt mit Verfügung vom 09.03.2023 (betreffend Fall 26). 
In den fünf Ermittlungsverfahren betreffend die Fallkomplexe Alfons L., Heinrich M., Lolke N., Walter S. und Peter H. führten die Prüfungen zu dem Ergebnis, dass entweder keine beihilfefähige Haupttat nachweisbar war oder eine solche jedenfalls wegen des Eintritts der Verjährung nicht mehr verfolgbar wäre. Daher erfolgten in diesen Verfahren keine Vernehmungen der beschuldigten Verantwortungsträger und damit auch keine Mitteilungen der Verfahrenseinleitung und -einstellung. In zweien dieser Verfahren (Peter H. und Walter S.) war unter den Beschuldigten auch der am 31.12.2022 verstorbene Joseph Ratzinger.
 
In dem Ermittlungsverfahren betreffend den Fall des Priesters Rudolf G. ergaben die Ermittlungen hingegen den Verdacht zweier noch nicht verjährter Haupttaten. Der 2018 verstorbene Priester G. war im Jahr 1962 wegen sexuellen Missbrauchs zu fünf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden. Nach seiner Haftentlassung wurde er ab 1968 als Krankenhausseelsorger in Rosenheim eingesetzt, wo auch Minderjährige als Ministranten tätig waren. Anders als im WSW-Gutachten von 2010, in dem in einem Satz lediglich ein auf einer Schlussfolgerung beruhender Verdacht angesprochen wurde, aber keine Hinweise auf Zeit, Ort und Modalitäten etwaiger strafbarer Handlungen sowie etwaige Geschädigte genannt wurden, die als Grundlage für Ermittlungen hätten dienen können, wird im WSW-Gutachten vom 20.01.2022 u.a. ausgeführt, Anfang der 2000er Jahre seien weitere Vorwürfe erhoben worden, der Priester solle eine „zu intensive Nähebeziehung zu den Krankenhausministranten“ gepflegt haben.
 
Im Rahmen der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen wurden daraufhin mehrere betroffene Ministranten ermittelt und als Zeugen vernommen. Drei dieser Zeugen schilderten dabei erstmals Missbrauchshandlungen zu ihrem Nachteil, von denen jedenfalls zwei in nicht verjährter Zeit stattgefunden haben sollen: Zu einem nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt entweder im Mai 2000 oder im Mai 2001 habe Priester G. einen damals 12- oder 13-jährigen Zeugen im Fahrstuhl des Klinikums Rosenheim aufgefordert, ihm in seine Hosentasche zu greifen. Hierbei habe der Zeuge den erigierten Penis des Priesters berührt. In den Jahren 1999 bis 2002 soll Priester G. anlässlich eines gemeinsamen Saunabesuchs in seinem Privathaus einem damals 11-13-jährigen Zeugen an den unbekleideten Penis gefasst haben. Beide Vorfälle wären jeweils strafbar als sexueller Missbrauch von Kindern gem. § 176 Abs. 1 StGB in der Fassung vom 13.11.1998.

In einem zweiten Schritt wurde von der Staatsanwaltschaft nunmehr geprüft, ob einem Personalverantwortlichen in objektiver und subjektiver Hinsicht eine Beihilfe zu diesen Missbrauchstaten anzulasten ist. Hierzu wurden mehrere weitere Zeugen aus dem Bereich der Kirche vernommen. Nachdem zwei dieser Zeugen von der Existenz eines Geheimarchivs sowie eines „Giftschranks“ berichteten, in welchen sich brisante Unterlagen befinden könnten, wurde beim Amtsgericht München ein Durchsuchungsbeschluss erwirkt, welcher am 16.02.2023 im erzbischöflichen Ordinariat und zugleich im erzbischöflichen Palais vollzogen wurde. Die Durchsuchung ergab, dass der sog. Giftschrank bereits 2011 aufgelöst wurde und die darin befindlichen Unterlagen zu den Personalakten gegeben wurden. Im als Geheimarchiv dienenden Tresor befanden sich keine verfahrensrelevanten Unterlagen.

Als während der erneuten Amtszeit von Priester G. zuständige Personalverantwortliche kamen Kardinal Wetter und Generalvikar Gruber in Betracht. Beide wurden daher als Beschuldigte geführt. Letztlich ergaben sich jedoch keine Nachweise für ein strafbares Handeln dieser Beschuldigten. Priester G. wurde mit Entscheidung in der Ordinariatssitzung vom 17.12.2002 in den Ruhestand versetzt, nachdem dort von den Verdachtsfällen berichtet wurde. Dass Kardinal Wetter bereits vorher von Missbrauchsvorwürfen Kenntnis hatte und den Priester gleichwohl im Dienst beließ, ist nicht feststellbar. Bei Generalvikar Gruber, der zum Zeitpunkt der erneuten Missbrauchstaten bereits seit rund zehn Jahren nicht mehr im Amt war, ist nicht feststellbar, dass er zu dem weit später erfolgenden sexuellen Missbrauch vorsätzlich beigetragen hat.

In rechtlicher Hinsicht ist zu betonen, dass Untersuchungsgegenstand der staatsanwaltlichen Ermittlungen keine eigenhändigen Missbrauchstaten der kirchlichen Personalverantwortlichen waren, sondern mögliche Beihilfehandlungen durch aktives Tun oder Unterlassen. Voraussetzung für eine strafbare Beihilfe ist zunächst, dass durch einen anderen Täter (in diesem Fall durch einen Priester) eine verfolgbare Straftat (etwa ein sexueller Missbrauch von Kindern) begangen wird. In einem zweiten Schritt ist sodann zu prüfen, ob und in welcher Form ein kirchlicher Verantwortungsträger zu dieser Tat Beihilfe geleistet hat. Eine Beihilfe durch aktives Tun (§ 27 Abs. 1 StGB) könnte beispielsweise darin liegen, dass ein Priester, der bereits durch sexuellen Missbrauch von Kindern strafrechtlich in Erscheinung getreten ist, an eine Dienststelle versetzt wird, an der er erneut Kontakt zu Minderjährigen hat, und es dort zu einer weiteren Tat kommt. Eine Beihilfe durch Unterlassen (§ 27 Abs. 1, § 13 Abs. 1 StGB) ist in Fällen denkbar, in denen eine Missbrauchstat darauf zurückzuführen ist, dass ein zuvor bereits wegen Missbrauchs in Erscheinung getretener Priester weiter beschäftigt wurde, ohne geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um weitere Taten zu verhindern. Eine Strafbarkeit wegen Beihilfe setzt zudem stets einen Vorsatz des Verantwortungsträgers voraus, d. h., dass er künftigen sexuellen Missbrauch zumindest billigend in Kauf genommen haben muss. 

gez. Leiding
Oberstaatsanwältin
Pressesprecherin